Zeitgeschichte, reflektiert von einem Dichter

Catalin Dorian Florescu beim Hoyerswerdaer Kunstverein 2016Der rumänisch-schweizerische Schriftsteller Catalin Dorian Florescu (Jahrgang 1967) liest erfrischend und eindrucksvoll aus seinen Büchern. Es moderiert Mirko Schwanitz, Rundfunk-Journalist aus Berlin. Das Projekt "GrenzgängeR" beim Hoyerswerdaer Kunstverein wird gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung Bonn. 

Sehen ist nicht gleich sehen. Wie bei einem Maler, ist auch das Sehen eines Dichters nicht nur ein rationales, sondern in erster Linie ein emotionales Sehen. In dieser doppelten Art von Sehen ist die Poesie von Catalin Dorian Florescu zu verstehen, weil sie den Blick auf die wellenartigen Wiederholungen von menschlichem Verhalten bis heute öffnet. Und, weil die Geschichten berühren und damit im Gedächtnis bleiben.
Catalin Dorian Florescu wurde 1967 in Timișoara in Rumänien geboren, lebte als Kind auch für kurze Zeit in New York, kam zurück nach Rumänien und emigrierte 1976 mit den Eltern in die Schweiz, studierte Psychologie, arbeitete viele Jahre mit Suchtkranken und lebt heute als freier Schriftsteller in Zürich. Er war Stadtschreiber in Erfurt und Dresden. Sein Werk wurde bereits mit vielen Preisen honoriert.
Geprägt wurden seine Emotionen durch das bunte, vielfältige, wenn auch beschwerliche Leben der Kindheit in Rumänien, durch die mit der "Mutter Erde verbundenen Donauschwaben" im Banat und durch die mythischen Erzählungen der Zigeuner mit ihrer lebensbejahenden stolzen Lebensart. Dies ist der Hintergrund für fast alle seine Bücher.
Catalin Dorian Florescu (rechts) mit Mirko Schwanitz beim Hoyerswerdaer KunstvereinSein rationales Wissen erlangte er auf Schulen und Universitäten in der Schweiz, beides zusammen ergibt so wundervolle Dichtungen wie " Wunderzeit", "Zaira", "Der blinde Masseur" und "Jacob beschließt zu lieben".
Dem letztgenannten war der Hauptinhalt der Lesung gewidmet. Jacob, mit "c", erzählt die Geschichte seines Lebens und das seiner Vorfahren im Banat. Die Geschichte beginnt in Lothringen, im Elsass und in Schwaben nach dem 30-jährigen Krieg, als Tausende auf der Suche nach einem Acker, der sie ernährt, über die Donau ins Banat kommen. Um zu überleben, sind körperliche Stärke, Durchsetzungsvermögen und Gewalt die "natürlichen" Eigenschaften dessen, der es zu etwas bringen will.
So auch der Vater Jacobs, der Jakob mit "k", der harte, unerbittliche Vater, der den Sohn schlägt und verrät, ihm wegen seines kränklichen Körpers das Erbe des Hofes verweigert, ihn aber immerhin zur Schule schickt. Jacob erlebt noch den Großvater, der sich diesem Gesetz der Stärke unterordnet, obwohl er zweifelt. Die Mutter bleibt dieser Denkart bis auf wenige Momente verpflichtet. Jacob ist der ungeliebte Sohn, der die Erwartungen nicht erfüllt. Alle Zeitenläufe spielen in die Familiengeschichte hinein, Wohlstand durch harte Arbeit, Geselligkeit in der Habsburg-Monarchie, Erster Weltkrieg und aufkommender Faschismus, der dem deutschen verblüffend ähnelt, Zweiter Weltkrieg und Kommunismus, wo der Hof plötzlich den anderen gehört.
Und Jacob mit "c" setzt von Kindheit an seine Tugenden als Mittel gegen die Gewalt ein, er beschließt zu lieben. Denn Liebe geschieht nicht so einfach, um Liebe muss man sich bemühen, ist das Credo Florescus. Jacob liebt die Zigeunerin Ramina, die ihn auf einem Mistkarren auf die Welt verhalf, er liebt das Serben-Mädchen Katica, er liebt den Großvater, den Popen, der Gebeine aus den Türkenkriegen bestattet und Vater und Mutter, die ihn am Schluss zu verstehen beginnen. Erst, wenn einer kommt, der die Kette der Gewalt durchbricht, gibt es Hoffnung für das Menschsein. Welch ein eindrucksvoller Bogen, den Florescu da spannt.

Ohrfeigen, Faustschläge und poetisches Schreiben

Ein Interview mit Catalin Dorian Florescu, geführt von Uwe Jordan

Herr Florescu – Ihr Roman „Jacob beschließt zu lieben“ beginnt hoch poetisch: „In jedem Sturm steckt ein Teufel ... Er versteckt sich vor Gott ... Hat er Glück, so kann er fliehen ... Aber es ist zu früh zum Aufatmen, zu dringend braucht der Gehetzte neue Tarnung. Er wird sie im Fell einer Katze oder in der dichten Krone einer Buche suchen ...“ – Ist Poesie ein heute noch wirksames Stilmittel?
Ich glaube schon. Poetisches Schreiben ist Ausdruck von Individualität. Je kleiner, je geschichtenfreier unsere Welt wird, desto mehr sehnen sich die Leser nach dem vergangenen Zauber und hoffen, ihn in den Romanen wieder zu finden. Aber das setzt voraus, dass der Schreiber wachsam durch die Welt geht. Dass er die Geschichte erkennt, die sich ihm anbietet. Dass er sie zu gestalten vermag, beschreiben kann; Beschreibungen, nicht Behauptungen nutzt. Dass er sinnlich schreibt; kurz schreibt. Lange Sätze schmeicheln nur dem Ego des Autors: „Seht, wie ich die Grammatik beherrsche!“ Aber die Sinnlichkeit verschwindet dann; Aufblähungen schaden!
Das ist jetzt ein bisschen der handwerkliche Teil des Schreibens. Mit welchen Inhalten aber fesselt man Leser? Ich glaube, jeder Mensch ist zeitlebens auf der Suche nach einem Ort auf der Welt, wo er in Würde leben kann, ohne Angst und ohne Hunger. Davon handeln im Grunde genommen alle meine Bücher. Alle. Und dennoch sind sie keine Wiederholungen.
Wie viel Selbst steckt in einem Roman von Ihnen?
Als Gestalt ist das sicher nur ein kleiner Teil. Aber in der Gestaltung ist der Autor unbedingt Teil der Geschichte, vom ersten Moment an. In jeder Figur entwirft er seine eigene Sicht der Welt – und diese Vision nährt sich aus der eigenen Lebens-Erfahrung. Die Frage: „Wer bin ich?“ stellt sich jedes Mal neu. „Welche Möglichkeiten habe ich, die Geschichte zu erzählen?“ – Man zieht die Geschichte an sich heran, auf dass sie einen wärmt – und auf dass man sie auch selbst wärmt.
Wann entscheidet sich, wie man die Geschichte erzählt?
Wenn der erste Funke gesprungen ist, ist noch nichts getan. Sehen Sie, für den Roman „Der blinde Masseur“ hat mir jemand ganz beiläufig in einem Cafè zwei Sätze er zählt: dass es da in Rumänien einen blinden Masseur gebe, der 30 000 Bücher besitzt. Mehr nicht. Das war der Funke. Das war der Moment des Zaubers, den darfst du nicht verpassen; es gibt wenige solcher Momente, aber es gibt sie. Doch wie gesagt – das war nur das Samenkorn. Eine Möglichkeit. Ich bin dann zu dem Mann gefahren. Er lebte in einem tristen Plattenbau. Aber als er die Tür geöffnet hat und alle die Bücher zu sehen waren, war plötzlich auch alle Schönheit dieser Welt da. Er ließ sich beim Massieren von den Patienten aus diesen Büchern vorlesen. Bauern, Ärzte, Schüler ... – er hat sie alle zur Literatur gebracht.
Das klingt jetzt recht rosafarben ...
Nein, gar nicht! Es war die riesige Geschichte des Widerstands gegen die Erblindung – nicht nur die körperliche Erblindung des Masseurs, sondern die ohne diese Literatur dauernde geistige Erblindung seiner Vorleser. Das war der Stoff – aber nun die Gestaltung. Sollte ich den Masseur aus der IchPerspektive erzählen lassen? Nein. Ich fand die Gestalt eines Rumänen, der in der Schweiz lebt, zurück nach Rumänien will und den Masseur trifft. Doch der Masseur ist zugleich Manipulator, denn seine Vorleser erzählen ihm auch von ihrem Leben, liefern sich ihm gewissermaßen aus.
Ist es nicht ein Balance-Akt, so zu erzählen, mit Licht UND Schatten?
Das ist eine Vision, die ich wagen muss. Ich muss Grenzen überschreiten, muss testen: „Wie «dramatisch» bin ich; wie weit kann ich gehen?“ Tue ich das nicht, wird es eine zahnlose Geschichte, die niemanden interessiert. Man darf den Leser nicht nur streicheln, schmeicheln und kitzeln, sondern muss auch Ohrfeigen und Faustschläge austeilen. Denn der Mensch, auch und vor allen der Leser, kommt doch stets als ganzer Mensch, nicht als halbe Gestalt. Nur ein ganzer Mensch kann einen Bezug zu sich und zur Welt herstellen. Nur er ist nicht korrumpierbar und hat alles, was er braucht: Rückgrat, Frische, Mut, Wahrnehmungsvermögen; Hören, Sehen, eine bedeutsame Sprache ...
Hat der Autor, hat der Leser in einer Welt voll ungeschriebener Zwänge und scheinbar unendlicher Freiheit die absolute Wahl, „ganzer Mensch“ zu sein?
Durchaus. Er hat die Wahl: Fernsehen oder Fellini! Das poetische Verhältnis zur Welt liegt in der persönlichen Verantwortung. Davon handelt auch mein neuester Roman „Der Mann, der das Glück bringt“.

Mit freundlicher Genehmigung von Sächsische Zeitung, Hoyerswerdaer Tageblatt.

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