Er probiert Geschichten an wie andere ihre Kleider

Eine Lesung von Helene Schmidt zu dem Roman "Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch (1911-1991)

Helene Schmidt liest von Max Frisch den Roman "Mein Name sei Gantenbein"  Max Frisch ist ein Schriftsteller, dem man beim Lesen sehr intensiv jeder neuen Idee und jeder seiner überbordenden Phantasien nachspüren muss. Das wird besonders deutlich in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ aus dem Jahr 1964, den Helene Schmidt beim Hoyerswerdaer Kunstverein vorstellte.
Frisch selbst schreibt darin: „Ich stelle mir vor, ein Mann hat einen Unfall… Ich stelle mir vor: Sein Leben fortan, indem er den Blinden spielt… sein Umgang mit Menschen, die nicht wissen, dass er sieht, seine gesellschaftlichen Möglichkeiten, seine beruflichen Möglichkeiten, dass er nie sagt, was er sieht, ein Leben als Spiel, seine Freiheit kraft eines Geheimnisses… Sein Name sei Gantenbein.“
Unter diesem Aspekt lotet Frisch nun viele Möglichkeiten aus, wie das Leben Gantenbeins verlaufen könnte, dabei gehen ihm die Ideen nie aus. Helene Schmidt hatte für ihre Lesungen interessante Textstellen ausgewählt, die sie gekonnt vortrug.
Max Frisch wurde in Zürich geboren und starb auch dort. Er war Schriftsteller und Architekt. In jungen Jahren wurde er hauptsächlich durch seine Theaterstücke bekannt. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Dramen „Biedermann und die Brandstifter“ und „Andorra“, später machen ihn die Romane „Stiller“, „Homo Faber“ und „Mein Name sei Gantenbein“ berühmt. In seinem Leben war er mehrmals verheiratet und hatte eine Menge Frauengeschichten, von 1958 bis 1962 lebte er mit Ingrid Bachmann in Rom.
Eine durchgängige Fabel hat der Roman „Gantenbein“ nicht. Unter dem Begriff, „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt spielt er die Geschichte seiner Erfahrung“ wird Frisch philosophische Betrachtungen zu Mann und Frau, Beobachtungen zur Wandelbarkeit des Menschen privat und in Gesellschaft und sein Verhalten, wenn er meint, sein Gegenüber könne ihn nicht sehen, voller Ironie kommentieren. Das alles in verschiedenen Erzählebenen, als Gantenbein selbst und als sein zweites Ich.
Frisch lässt Gantenbein bei seinem ersten Ausflug als „Blinder“ in die Stadt, mit Blindenstock und Blindenbrille, mit dem Wagen einer Dame, namens Lila kollidieren. Voller Ironie kann man nun lesen, wie viele Fehler dem „Blinden“ unterlaufen, ohne dass es einer bemerkt, weil die Umstehenden eifrig bemüht sind, das Geschehen zu kommentieren. Der „Blinde“ kann sehen, dass die Dame eher eine Halbweltdame ist, wird das verschweigen und das Spiel mit Lila als Geliebte großartig spielen. Man erlebt nun die schöne Lila als Gattin, die eine gefeierte Schauspielerin ist, kapriziös und liebenswert, widerspruchsvoll und mehr Schein als Sein, ein nächstes Mal in der Rolle als Mutter übereifrig und ungeübt, als Gastgeberin und Dame des Hauses und als begehrte Diva vieler Männer.
Eine „Anprobe von Geschichten", ein Vergnügen beim Lesen und Zuhören.
Aber, „das Spiel mit der Blindenbrille und dem schwarzen Stöcklein am Rinnstein ist nachgerade langweilig … ich würde es verstehen, wenn Gantenbein plötzlich seine Rolle aufgäbe, und ich frage mich besonders, wie Lila es aufnehmen würde, wenn er eines Abends gestände, dass er sieht?“ Die Antwort gibt er selbst, wenn er glaubt, dass sich bei Lila eigentlich nichts verändern würde, „denn für sie ist er durch sein Geständnis nicht blinder und nicht weniger blind, als sie ihn kennt.“ Aber nicht nur Lila erfährt wegen ihrer Schwächen seine Missachtung, Gantenbein selbst sieht sich als Mensch auch ziemlich erbärmlich. Er kann sich vorstellen: Gantenbein als Reiseführer, als blinder Gatte, als Schachspieler, beim Zerlegen von Forellen, vor dem Stadtarzt … aber Gantenbein als Freund? …Ich frage mich, ob ich ihn mag…“
Hier beendet Helene Schmidt ihre Lesung und die Zuhörer danken ihr für diesen heiteren Exkurs zu Max Frisch.

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