Die unglaubliche Irrfahrt eines Romans - „Die Denunziantin“ von Brigitte Reimann

 

05205150 Jahre nach dem Tod von Brigitte Reimann (1933-1973) glaubte man, alles Geschriebene von ihr im Wesentlichen zu kennen. Doch da erregte ein ganz neues Werk Aufmerksamkeit, ihr erster Roman, „Die Denunziantin“, in vier Fassungen geschrieben, am Anfang der 50er Jahre, zu Lebzeiten der Schriftstellerin nicht gedruckt, 2022 herausgegeben von Kristina Stella.
Begonnen hatte alles im Jahr 1952. Brigitte Reimann wollte mit einer Liebesgeschichte an einem Schreibwettbewerb teilnehmen, den Anna Seghers initiiert hatte. Sie war zu spät dran, hatte aber von der großen Anna Seghers die Aufforderung bekommen, das Schreiben nicht aufzugeben, denn zum Schreiben gehört auch eine gewisse Kühnheit, die besaß Brigitte Reimann ganz gewiss. So schrieb sie „kühn“ und voll Enthusiasmus ihren ersten Roman, „Die Denunziantin“. Es ist eine Auseinandersetzung einer Schülerin mit der unsäglichen Ideologie des Nationalsozialismus, mit vehementer Begeisterung für eine kommunistische Neuorientierung der Gesellschaft in der DDR.
Aus heutiger Sicht völlig unverständlich, wurde sie zu Änderungen und Umformulierungen gedrängt, so, dass bei der vierten Fassung der Ursprung kaum noch erkennbar ist. Kristina Stella hat in akribischer Kleinarbeit alle im Archiv in Neubrandenburg vorgefundenen Fassungen, ein Konvolut von gefühlten 1000 Seiten, sortiert, aufbereitet und herausgegeben, verbunden mit einer umfangreichen Editionsgeschichte. In ihrem Buch ist die erste Fassung vollständig enthalten, die weiteren drei werden kommentiert und verglichen.
Kristina Stella unterstreicht das Anliegen von Brigitte Reimann, dass sie das Buch „von einer Jugendlichen für Jugendliche“ geschrieben habe. Die jugendliche Alltagssprache verliert sich fast vollständig in den weiteren Fassungen und das Anliegen wird somit unglaubwürdig. Diverse Begründungen für die Ablehnungen sind dokumentiert, in einem Brief an Wolf-Dieter Brennecke schreibt sie 1953, nach der Aufforderung zur Änderung der ersten Fassung: …ich war völlig verzweifelt, weil mir diese verflixte Umarbeitung so schrecklich schleierhaft war. Und, nach Ablehnung auch der vierten Fassung schreibt sie in ihrem Tagebuch vom September 1957: „Die Denunziantin“ war konterrevolutionär (d.h. ich bin ein halbes Jahr zu spät gekommen, nachdem das Schwein U[lbricht] bereits einen wiederum neuen, schärferen Kurs eingeschlagen hatte) und ich unterstütze angeblich – ich habe es mir schriftlich geben lassen- „die Tendenzen der Leute, die die kapitalistische Ordnung bei uns wieder aufrichten wollen… 1957 erhält sie vom Verlag Neues Leben die endgültige Ablehnung, verfasst im trockenen nichtssagenden Zeitungsdeutsch: … die Darstellung dieser Erscheinungen in solcher Ausschließlichkeit verdeckt das Positive, das in jenen Jahren geschaffen wurde und würde außerdem jenen Kräften zugutekommen, denen es letzthin um die Liquidierung dieser positiven Dinge geht.
Brigitte Reimann bringt die Geduld nicht mehr auf, „ihre Seele zu zerpflücken. Dass ich anders geworden bin, wird sich in meinen Büchern zeigen – wenn ich noch welche schreiben werde“.
Der Vertrag mit dem Verlag wird 1958 aufgelöst. 2003 erscheint beim Aufbauverlag die  unvollendete vierte Fassung unter dem Titel "Wenn die Stunde ist zu sprechen".
Es ist kaum anzunehmen, dass ein anderer Chronist, als eben Kristina Stella, mit so viel Akribie und Durchhaltevermögen diese Herausgabe zu Ende gebracht hätte, man kann die Mühe nur ahnen. In ihrem Vortrag vermittelte sie sehr authentisch und spannend diese unglaubliche Irrfahrt eines Romans und zog so die Zuhörer in ihren Bann. Ihr gebührt ein großes Dankeschön.

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